Heym 1989/90: „Für unser Land“ und „Aschermittwoch“

Quelle: „Neues Deutschland”, 28. November 1989, S. 2.

In den letzten Wochen des Jahres 1989 überschlagen sich in der DDR die Ereignisse: Die Grenzen zur Bundesrepublik und nach Westberlin werden geöffnet, die Regierung tritt zurück, neue politische Parteien gründen sich, auf den Montagsdemonstrationen ist der Ruf nach einer Wiedervereinigung immer deutlicher zu vernehmen. Wie andere Schriftsteller meldet sich auch Stefan Heym wiederholt zu Wort und wirbt weiter für eine eigenständige Entwicklung der DDR. Am 28. November stellt er auf einer Pressekonferenz den unter anderen von Christa Wolf mitverfassten „Aufruf für unser Land“ (Abb.) vor. Das unter anderem von Filmregisseur Frank Beyer, Rocksängerin Tamara Danz, Pfarrer Friedrich Schorlemmer und Filmemacher Konrad Weiß unterzeichnete Papier warnt vor einem „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte“ und vor einer Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik. Dem Appell schließen sich innerhalb weniger Wochen mehr als 1,1 Millionen Bürger an. Als bald auch SED-Staats- und Parteichef Egon Krenz unterzeichnet, wertet Heym dies als Affront, der den Aufruf „wertlos“ gemacht habe.

Eine heftige Kontroverse entfacht Stefan Heym mit seinem Anfang Dezember im „Spiegel“ veröffentlichten Essay „Aschermittwoch“. In ihm beklagt er eine Selbstentwürdigung der DDR-Bürger, die zu Hunderttausenden die neu gewonnene Freiheit zu Einkaufstouren in den Westen nutzen. Aus dem Volk, „das nach Jahrzehnten Unterwürfigkeit und Flucht sich aufgerafft und sein Schicksal in die eigenen Hände genommen“ habe, sei eine „Horde von Wütigen“ geworden, „die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten“. Später bezeichnete Heym diese Schilderung als Fehler.

Was Monate zuvor noch als Sensation gegolten hätte, in den Wirren des bewegten Herbstes 1989 aber nur noch eine Nachricht unter vielen war: Drei Jahrzehnte nach Fertigstellung der ersten Fassung und 15 Jahre nach seinem Erscheinen in der Bundesrepublik wird Stefan Heyms Roman 5 Tage im Juni über den Aufstand vom 17. Juni 1953 erstmals auch in der DDR herausgebracht. Die wegen der Papierknappheit im Lande auf 30.000 Exemplare limitierte Auflage des lange Zeit verbotenen Buches ist binnen kürzester Zeit vergriffen. Für das Frühjahr 1990 kündigt der Verlag Der Morgen eine DDR-Ausgabe von Stefan Heyms 1988 in Westdeutschland erschienener Autobiografie Nachruf an.

Am 23. November werden die gut zehn Jahre zuvor beschlossenen Ausschlüsse Stefan Heyms und weiterer oppositioneller Autoren aus dem Schriftstellerverband der DDR annulliert.

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